Eine historische Untersuchung der „Entstehung der Vorstellungen von Familie in der Schweiz“ der Universität Basel zeigt, dass der Begriff und das heute dominierende Bild von „Familie“ relativ jung sind. Die bürgerliche Kleinfamilie entstand ideell und praktisch erst in der Moderne (ca. ab 1800). Sie ist gekennzeichnet durch die Trennung von Erwerbs- und Familienleben und durch eine hierarchisch strukturierte, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Damit ist das bürgerliche Familienideal an ein spezifisches Geschlechterverhältnis gebunden. Das bürgerliche Familienideal erfuhr damals seine Begründung und Legitimation, indem es als universal, menschlich‚ natürlich, biologisch vorgegeben und als ursprünglich präsentiert wurde. Obwohl die bürgerliche Kleinfamilie als Vorstellung seit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft dominierte, konnte sie für eine breite Bevölkerung im Alltag nur in der historisch kurzen Zeit zwischen 1945 und 1970 realisiert werden.Dies zeigt, dass Familie als Leitbild und Familie als Praxis zwei völlig unterschiedliche Dinge sind.
In der Zeit der Moderne begann der Schweizerische Staat, Familie so zu organisieren und zu normieren, damit er von ihr profitieren konnte. Sie wurde als unabdingbare Kernzelle für die Schweizer Gesellschaft angesehen und sollte eine ganz bestimmte Aufgabe erfüllen: Die gesellschaftlichen Werte im Kleinen repräsentieren und erzieherisch die Werte an die nächste Generation weitergeben. Es bestand (und besteht grösstenteils bis heute) die normative Vorstellung, dass nur in dieser familialen Lebensform eine gute emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern entstehen kann. Damit begünstigte der Staat eine bestimmte Familienform und verunmöglichte andere. Dies, obwohl es schon in der Vormoderne wie auch der Moderne grosse Unterschiede zwischen den familialen Netzwerken in den verschiedenen Ständen und Milieus gab.
Mitbegünstigt durch den Aufbau des Sozialstaates glichen sich die familialen Lebensweisen zu Beginn des 20.°Jahrhunderts an und das traditionelle bürgerliche Familienmodell wurde zur Grundlage für Unterstützungsleistungen. Das Familienideal bildete den Ausgangspunkt für alle rechtlichen Bestimmungen. Seither führt die Pluralisierung von familialen Lebensformen (z.B. Regenbogen-, Patchwork-, Fortsetzungs-, Pflege-, Adoptiv-, Eineltern- und Grossfamilien oder multilokal lebende Familien) zu einer zunehmenden Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der einzelnen Familien-Netzwerken und den staatlichen Unterstützungsangeboten, denn das Ideal der bürgerlichen Familie gilt bis heute als Grundlage für die Gesetze, auf denen die Angebote beruhen.
Der Grund hierfür liegt darin, dass einerseits die Norm der bürgerlichen Kleinfamilie durch die alltäglichen Lebensweisen und -praxen der Menschen überholt wurde. Andererseits haben sich die gesellschaftlichen Anforderungen an Familien im Laufe der Zeit verändert, wodurch sich die damit verbundenen Normen transformieren.
Das Institut für Sozialmanagement der ZHAW hat sich mit dem Familienalltag als Herstellungsprozess befasst. Die Fragen waren:
Erstens wurde die volkswirtschaftliche Bedeutung der Familie als Wertschöpfer näher angeschaut. Das Ergebnis dieser Betrachtung ist beachtlich: Von den 968 Milliarden Schweizer Franken (volkswirtschaftliche Gesamtrechnung - VGR) gehen rund 401 Milliarden Schweizer Franken in die Haushaltsproduktion. Dies entspricht etwa 8,7 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit, welche Familien leisten, zum Beispiel in Form von Hausarbeit, Kinderbetreuung etc.
Zweitens wurden die "innerbetrieblichen" Belange, also der sogenannte "Leistungserstellungsprozess" von Familien unter die Lupe genommen. In der Betriebswirtschaftslehre wird mit dem Prozess der Leistungserstellung beschrieben, wie ein Unternehmen zu seinem Produkt kommt: Welche Materialien braucht es? Welche Schritte sind notwendig? Wer muss sie ausführen und wie bringt man die notwendigen Kompetenzen an den richtigen Ort zur richtigen Zeit?
Es wurde versucht, diese Gedankengänge auf Familien zu übertragen. Hierbei konnte festgestellt werden, dass bei Familien nebst „Betriebsmitteln“ bzw. "Materialien" (zum Beispiel Geld) auch „Produktionsqualität“ eine zentrale Rolle spielt. Gemeint ist damit die Sinngebung und Bewertung dessen, was das Produkt „Familie“ ausmacht beziehungsweise was die Familie selbst herstellt. Es zeigt sich, dass der Leistungserstellungsprozess in der Familie aus Routinen und Ritualen besteht. Sie sind wichtig für die Strukturen und den Erhalt der emotionalen Bindung in der Familie.
Werden Situationen betrachtet, in denen die Familie zentrale materielle oder immaterielle Leistungen nicht mehr erbringen kann, kommt es zu Brüchen im Leistungserstellungsprozess. Und zwar in folgendem Sinn: Um eine Störung zu verarbeiten, muss eine Familie auf ihren „Qualitätsmassstab“ zurückgreifen – die Gütekriterien, nach denen sie Familie ist. Erst der Bezug auf das „Produkt“ Familie, das in einer bestimmten Qualität durch die Familie „hergestellt“ wird, macht erkennbar und verstehbar, was überhaupt eine Störung ist. Tritt eine Störung in einer Familie auf, kann das externe Hilfesystem aufmerksam werden.
Nehmen wir an, ein Kind wird, um es zu bestrafen, häufig geschlagen. Für die Familie kann dies bedeuten, dass entweder eine Störung behoben und der Familiensinn wieder hergestellt wird. Oder aber die Familie ist in der Krise. Für externe Hilfesysteme ist in so einem Fall jedoch klar: Das Schlagen des Kindes ist schlicht und einfach falsch. Es ist irrelevant, welchen Sinn die Familie ihren Handlungen gibt oder nicht gibt: Sobald das Kindeswohl betroffen ist, konvergieren die Urteile von aussen, egal um was für eine familiale Lebensform es sich handelt und egal in welcher Situation sie sich befindet. Es greifen dann institutionelle Fremdeinschätzungen, die nicht von der Sinngebung in der Familie abhängig sind. Die externe Hilfeleistung selbst, die dann unweigerlich erfolgt, muss von der Familie aber trotzdem „verarbeitet“ werden gemäss ihrer eigenen Identitätsbildung. Entweder ist diese Verarbeitung, wie im Fall der Kindeswohlgefährdung, der Sinn der Hilfen: Das Kindeswohl muss sichergestellt werden und wenn es irgendwie möglich ist, soll die Familie das selbst erkennen und ihre „Produktionsqualität“ entsprechend verbessern. Oder die Verarbeitung durch die Familie ist zwar nicht der Sinn der Hilfen, aber der „Familiensinn“ muss sich trotzdem unvermeidbar damit auseinandersetzen – zum Beispiel im Falle einfacher „betrieblicher“ Hilfen wie der Sozialhilfe. Man könnte meinen, dass die Familie einfach eine monetäre Leistung entgegennimmt; aber dem ist nicht so. Denn es gibt in der Familie keinen Leistungserstellungsprozess ohne Sinngebungsprozess – auch dann nicht, wenn Hilfesysteme beteiligt sind und auch dann nicht, wenn die angebotenen Hilfen nur auf „Betriebsmittel“ (in diesem Falle Geld) abzielen.
Link Bericht
Das private Forschungs- und Beratungsunternehmen INFRAS untersuchte im Rahmen des Projektes Doing Family folgende Fragen:
Auf der Basis dieser untersuchten Fragen kommt INFRAS zum Schluss, dass auf verschiedenen Ebenen Handlungsbedarf besteht. INFRAS unterscheidet zwischen Bereichen mit grossem und mittlerem Handlungsbedarf und solchen, wo in erster Linie der status quo beibehalten werden soll:
Grosser Handlungsbedarf:
Mittlerer Handlungsbedarf:
Status quo:
Zur Info: Bei den beiden Massnahmen „Sozialpädagogische Familienbegleitung“ und „Kinderschutz-Massnahmen“ wurde kein Handlungsbedarf formuliert, weil diese Massnahmen im Rahmen der Forschungsarbeit nicht weiter vertieft wurden.